Es war einmal ein junges Entlein, das schon bei seiner Geburt auffiel und zwar negativ, weil es nicht so war wie die anderen.
Sein Gefieder war nicht so schön wie das seiner Geschwister. Sein Schnabel schien zu groß, sein Gang zu unbeholfen.
Schon früh bekam es zu spüren: „Mit dir stimmt etwas nicht.“
Die eigenen Geschwister stießen es zur Seite. Fremde Tiere zischten, hackten oder lachten. Und die Menschen?
Sie drehten sich einfach weg.
Das Entlein tat, was viele von uns tun, wenn wir Ablehnung erfahren:
Es versuchte, sich anzupassen.
Es watschelte so wie die anderen, versuchte das gleiche Futter zu mögen, bewegte sich so leise und unauffällig wie möglich.
Doch egal, was es versuchte das Gefühl „Du bist falsch“ blieb.
Der Schmerz wurde groß.
Also tat das Entlein das Einzige, was ihm blieb: Es ging weg.
Weg von den anderen, weg vom vertrauten Teich, hinein ins Ungewisse.
Der Winter der Einsamkeit
Der Weg war lang, und der Winter kam.
Kälte, Hunger, Stürme das Entlein kämpfte ums Überleben.
Es war allein, ohne Trost und ohne zu wissen, wohin.
Manchmal wünschte es sich, einfach nicht mehr weiterzumachen.
Doch etwas in ihm, ein leises, unerschütterliches „Trotzdem“ – trieb es an.
Vielleicht war es nicht die Hoffnung, vielleicht war es nur die Weigerung, jetzt schon aufzugeben.
Das Loslassen
Eines Frühlingstages geschah etwas Merkwürdiges.
Das Entlein hörte auf, sich zu vergleichen.
Es kämpfte nicht mehr darum, jemand zu sein, den andere akzeptieren.
Es schwamm einfach ohne Plan, ohne Ziel, nur weil es das Wasser liebte.
Und da, im klaren Wasser eines stillen Sees, sah es ein Spiegelbild.
Doch das Spiegelbild war nicht das eines plumpen, grauen Vogels.
Es war ein Schwan, mit schneeweißem Gefieder und anmutiger Haltung.
Und da begriff es: Es war nie ein Entlein gewesen. Es hatte nur geglaubt, eins zu sein, weil alle um es herum das sagten.
Die Botschaft für uns:
Dieses Märchen von Hans Christian Andersen ist nicht nur eine Geschichte für Kinder.
Es erzählt uns etwas zutiefst Menschliches:
1. Ablehnung sagt oft mehr über die anderen als über dich.
Wenn du nicht ins Bild passt, das andere gewohnt sind, werden sie dich vielleicht ablehnen, nicht, weil du „falsch“ bist, sondern weil sie nur das kennen, was ihnen vertraut ist.
2. Anpassung hat Grenzen.
Du kannst deine Flügel stutzen, dich kleiner machen, leiser reden.
Aber wenn du dafür deine Natur verleugnest, verlierst du dich selbst.
Anpassung kann kurzfristig helfen, langfristig kostet sie dich Freiheit und Lebenskraft.
3. Die Reise zu dir selbst geht oft durch Einsamkeit.
Manchmal musst du Orte, Gruppen oder Situationen verlassen, die dir nicht guttun, auch wenn das heißt, eine Zeit lang allein zu sein.
Diese „Winterphasen“ fühlen sich kalt und karg an, aber sie sind oft der Boden, auf dem neues Selbstvertrauen wächst.
4. Ankommen geschieht im Loslassen.
Der Schwan fand seine wahre Natur nicht durch angestrengtes Suchen, sondern indem er aufhörte, sich zu wehren.
Manchmal entdecken wir unser wahres Wesen, wenn wir aufhören, uns ständig zu fragen, wie wir wirken und stattdessen einfach leben.
Eine Übung zur Selbstannahme
Wenn dich diese Geschichte berührt, probiere Folgendes:
Dein „Entlein-Moment
Schreibe auf, wann du dich zuletzt fehl am Platz gefühlt hast. Wer war dabei? Was wurde gesagt oder getan?
Was hast du getan, um dich anzupassen?
Hast du dich zurückgenommen, deine Meinung nicht gesagt, deine Art verändert?
Dein „Schwanenblick“
Frage dich: Was könnte an mir nicht „falsch“, sondern einfach „anders“ sein?
Ein kleiner Schritt
Überlege, wo du heute einen kleinen Moment lang einfach „so sein“ könntest, wie du bist, ohne dich zu verstellen.
Fazit
Das Märchen vom hässlichen jungen Entlein zeigt uns:
Wahre Selbstannahme ist kein Schönreden, sondern das mutige Erkennen der eigenen Natur, selbst wenn die Umgebung sie nicht versteht.
Und manchmal heißt das, eine Zeit lang durchs eigene Winterland zu gehen, um dann am Seeufer zu stehen und zu sagen: „Ich war nie ein Entlein. Ich bin ein Schwan.“
Viele Freude beim Lesen
Barbara Prinzing