(Ein Erfahrungsbericht)
Thema: Arbeit mit dem Unterbewusstsein bei kognitiver und kommunikativer Einschränkung des Klienten
«Je grösser und stärker er wird, je mehr wird das Haare schneiden bei ihm zum Kampf, da er sich mit Weinen und sich dagegen Aufbäumen wehrt. Kannst Du da eventuell mit Hypnose etwas machen?», fragte mich sein Vater in einem Gespräch Anfang Januar 2020.
Die Rede war von X*, einem seit Geburt an kognitiv eingeschränkten 14-jährigen Jungen, dessen Kommunikation aus Lauten und Gesten bestand. Weiterhin war X nur schwer in der Lage, einige Minuten ruhig zu sitzen. Wie sollte da Hypnose mit «Induktion, Vertiefung der Induktion, Intervention und Aufwachphase» (Prinzing 2017) möglich sein, da er meine Information nicht umsetzen konnte? Ich hätte beinahe Nein gesagt, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es doch möglich sein müsste, mit dem Unterbewusstsein des Jungen zu arbeiten, wenn man bedenkt, dass «in der Hypnose die normale Beziehung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein so umstrukturiert wird, dass das Unterbewusstsein dominiert.» (Weiss, 2018, S. 36).
Wir vereinbarten also für den 29. Januar 2020 um 16.00 Uhr ein erstes gegenseitiges Kennenlernen in meinen Praxisräumlichkeiten, damit ich mir einen Eindruck von X machen konnte und um zu sehen, ob es X überhaupt möglich sein würde, sich mir gegenüber zu öffnen. Den Zeitrahmen legte ich auf etwa 30 Minuten fest. Ich bereitete wie gewohnt meine Unterlagen für das Kennenlerngespräch vor, sowie eine Handpuppe in Form eines Murmeltieres mit weichem Fell.
Bei meiner Arbeit als Pflegefachfrau hatte ich durch die Anwendung von «Basaler Stimulation©» die Erfahrung gemacht, dass kognitiv eingeschränkte Menschen, oder komatöse Patienten über den haptischen- und Hör-Sinn meist weiterhin wahrnehmen können. In der Situation von X musste also sein Unterbewusstsein so stimulieren werden, dass es noch vor dem Bewusstsein reagiert und die Impulse von dort in den Präfrontalen Cortex im Gehirn (der Sitz unseres Bewusstseins) weitergeleitet werden.
Als es zum vereinbarten Zeitpunkt an der Praxistüre klingelte, war ich gespannt, was für ein Junge mir gegenüberstehen würde. Seitdem ich X vor einigen Jahren kurz mit seinen Eltern kennengelernt hatte, habe ich ihn nicht mehr gesehen und stellte mir nun einen introvertierten, vielleicht verschlossenen Jungen vor, dessen Kontaktaufnahme mit der Umwelt eher erschwert ist. Welch ein Irrtum: vor mir streckte mir ein ca 1.50 m grosser athletisch wirkender Junge, in Begleitung seiner Eltern, seine Hand zur Begrüssung entgegen.
Während des gemeinsamen Kaffees – für X gab es Sirup, fiel mir auf, das X sehr leise Geräusche wahrnahm, noch bevor diese von seinen Eltern oder mir registriert werden konnten. Auch war X äusserst interessiert an allem, was in meiner Praxis war und konnte sich mit Lauten und Gesten, welche der Gebärdensprache ähnelten, unterhalten. Die Fellhandpuppe interessierte ihn sehr. Er streichelte sie immer wieder und freute sich sichtlich, als ich ihm sagte, dass dies nun seine Puppe wäre.
Ich war überzeugt, dass durch das Streicheln des Felles die Brodmannarela 5 und 7 für Körperempfindungen im Parietallappen seines Gehirns (Brodmann, zit. in Carter, 2019, S. 67) stimuliert wurden. Seine Eltern und ich schlugen X verschiedene Namen für das Stofftier vor. Bei «Wuscheli» klatsche er vor Begeisterung in seine Hände. X kam immer wieder zu mir und seine Mutter übersetzte seine Fragen, oder Mitteilungen, die er an mich hatte. Mit einer Schere, welche ich bereitgelegt hatte, zeigte ich X, wie er «Wuscheli» von seinem viel zu warmen Fell befreien konnte.
Die abgeschnittenen Haare wurden in einer kleinen Tasche gesammelt, damit er immer wieder durch Anfassen der abgeschnittenen Haare die haptische Stimulation erhielt. Nach einer halben Stunde war mir klar, dass ich für X eine Hypnosetherapie vorbereiten würde, die auf seine Bedürfnisse zusammengestellt ist. Als «Aufgabe» gab ich X und seinen Eltern mit, so oft wie möglich «Wuscheli» das Fell zu schneiden. Ziel dieser Aufgabe war ein Gewöhnen des Unterbewusstseins an diese Handlung. Wir vereinbarten eine Hypnosetherapie für Anfang Februar, bei X zuhause, denn dort sollte er die Haare geschnitten bekommen – mir war wichtig, die Therapie in dem gewohnten Umfeld von X durchzuführen. Noch bevor X und seine Eltern die Praxis verliessen, kam X unverhofft mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Als ich fragend seine Mutter ansah, erklärte sie mir, dass er sich für das Wasser und «Wuscheli» bedanken wollte – ich war gerührt.
Mit meinem E-Bike fuhr ich am 5. Februar 2020 kurz vor 14.00 Uhr zur Wohnung von X, die nicht weit von meiner Praxis entfernt ist. Im Rucksack hatte ich «Steffi», eine Babypuppe mit sehr langen Haaren und eine Box, um via Bluetooth Entspannungsmusik während der Therapie abzuspielen.
X, seine Eltern und ich sassen am Esszimmertisch und X zeigte mir zur Induktion «Wuscheli», sowie die abgeschnittenen Haare, die er in der Tasche gesammelt hatte. X schien sich über das Lob, das ich ihm machte, zu freuen und ich hoffte, so die Induktion vertieft zu haben. Zur Intervention stellte ich die Musik an («Entspannungsmusik natur» youtube) und holte «Steffi» aus meinem Rucksack. Jetzt ging es darum, X an ein menschliches Modell heranzuführen. Sehr interessiert holte X die Puppe aus der Verpackung und seine Mutter bewunderte sofort die sehr langen Haare der Puppe. Mit der bereitgelegten Schere zeigte ich X, wie er der Puppe die Haare schneiden konnte. Zu anfangs noch etwas zögernd, sehr schnell aber immer mutiger, schnitt er der Puppe Zentimeter um Zentimeter die Haare, die natürlich auch wieder gesammelt wurden. Ich ermutigte ihn, auch bei sich ein paar Haare zu schneiden, was er auch bereitwillig umsetzte. Mit der Hand sollte er immer wieder in die Tasche mit den Haaren fassen, damit ihm diese immer vertrauter würden. Mir war bekannt, dass die Eltern von X über eine Friseur-Übungsperücke verfügten, welche wir auch hätten einbeziehen können. Da ich aber nach einer halben Stunde den Eindruck hatte, dass X müde wurde, er lehnte sich an seine Mutter und seine Augenlider wurden zusehends schwerer, empfahl ich, es bei dieser Übung zu belasse.
Die Aufwachphase gestaltete ich durch eine Zusammenfassung von dem, was X nun geleistet hatte, und liess ihn ein Glas Wasser trinken. Ich empfahl den Eltern von X weiter mit dem Stofftier und der Puppe das Haareschneiden zu üben und immer die Entspannungsmusik dabei laufen zu lassen. Auf diese Weise sollte von den Brodmannarealen 22, 38, 41,42, in den Temporallappen seines Gehirns (Abb. S.o), welche beim Hören aktiv sind, Entspannungsimpulse in das Bewusstsein gelangen. Mit den Eltern vereinbarte ich, dass sie sich wieder bei mir melden könnten, wenn sie weiter Unterstützung benötigen würden. Die Uhr zeigte 14.40 Uhr.
Anfang April erhielt ich von X`s Vater die Nachricht, dass X sich nun ohne Widerstand seine Stirnfransen hat schneiden lassen und nur wenige Tage später erhielt ich die schöne Information von seiner Mutter, dass sie ihm nicht nur ohne Probleme die Haare schneiden konnte, sondern dass er auch den dafür vorgesehenen Stuhl selbst geholt hat – wie hat mich das für X und seine Eltern gefreut!
*Name ist anonymisiert
Quellen:
– Brodmann, Corbinian. Zit. in Rita Carter. (2019). Das Gehirn. (3. Auflage). München: Dorling Kindersley
– Prinzing, Barbara. (2017). Basismodul 1. Aarau: Institut für Ganzheitliche Methodik
– Weiss, Brian L. (2018) Seelenwege. (1. Aufl.). München: Goldmann
– Internetquelle: https://m.youtube.com/watch?v
Margrit Cofalka
Steffisburg, 7. April 2020
Bild von meineresterampe auf Pixabay
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